Identitätssuche vs. Selbstverlust – »Boy Erased«

Boy Erased. ©Focus Features
Boy Erased. ©Focus Features

Unter dem deutschen Verleihtitel »Der Verlorene Sohn« ist die Verfilmung von Garrard Conleys »Boy Erased: A Memoir« auch hierzulande seit Ende Februar im Kino zu sehen. Eine Review darüber, was Buch und Film eint und trennt.

»I wondered what it felt like to see yourself reflected in every movie, to have friends and family constantly dropping fun little hints about your love life, to have the world open up to you in all its magnificence«, so beschreibt Garrard Conley in Boy Erased: A Memoir seine Frustration, als er sich darüber im Klaren wird, dass er sich sexuell zu anderen Männern hingezogen fühlt. Gelesen habe ich Boy Erased: A Memoir als Vorbereitung auf meine Sichtung der Buchverfilmung, die Ende Februar in österreichischen Kinos angelaufen ist.

Bereits 2016 erschien diese Buchvorlage, in der Conley von seiner Zeit in einem »Ex-Gay«-Programm mit dem Namen »Love in Action« berichtet, also einer Einrichtung, in der man von Homo- oder Bisexualität zu Heterosexualität »umerzogen« werden soll. Ein stetiges Herunterbeten von sündigen Gedanken vor anderen Gruppenmitgliedern und Verbote von so mondänen Beschäftigungen, wie Lesen (wenn es nicht gerade die Bibel ist), standen hier an der Tagesordnung. Zusammenfassen lässt sich sein Erleben innerhalb des »Seminars« als eine einzige Selbstkasteiung. Für Conley hatte das Tradition, fügte es sich schließlich in seine eigene Geschichte als Heranwachsender ein, die ohnehin von Scham, Verleugnung und Selbstbestrafung geprägt war. Als Kind eines angehenden Baptisten-Prediger stand für ihn mit dem Zeitpunkt, in der er seine Homosexualität als Teil von sich begriff, fest, dass er gegen sie (und damit gegen sich selbst) würde angehen müssen.

Gerade dieser Teil seiner Geschichte nimmt in Boy Erased: A Memoir einen sehr breiten Platz ein; der kultivierte Selbsthass, der auf der anerzogenen Vorstellung eines strafenden, statt eines liebenden Gottes basiert und auf einer Erziehung, die nicht sagt, dass man gut ist, wie man ist, sondern die mahnt hart an sich zu arbeiten um Gott zu gefallen.

Für mein Empfinden war es gerade deswegen umso erstaunlicher, dass Boy Erased: A Memoir verfilmt worden ist, geht es wirklich unglaublich viel um das Innenleben des Autors Garrard Conley. Er verbringt letztlich auch »nur« zwei Wochen bei »Love in Action«. Das ist nicht relativierend gemeint, man bekommt schon einen ziemlich klaren Eindruck davon, wie schwerwiegend bereits diese Zeit Selbstwertgefühl und Selbstverständnis nachhaltig beeinträchtigt haben. Da ich das Buch jedoch vor genau diesem Hintergrund las (dass es verfilmt worden ist), fragte ich mich, wie gut es sich überhaupt filmisch adaptieren ließe, da viele Vorgänge, die bei »Love in Action« stattfinden auch nicht in dem Sinne sensationell erscheinen. Erst durch die Perspektive der detaillierten Monologe und Gedankengänge offenbart sich der vollständige Schaden, den Conley genommen hat.

Buchautor Garrard Conley mit Hauptdarsteller Lucas Hedges und Regisseur, Drehbuchautor und Darsteller Joel Edgerton am Set von »Boy Erased« ©Focus Features

Wenn Jugendliche lernen sich zu hassen

Bereits im September letzten Jahres feierte die Verfilmung Boy Erased ihre Weltpremiere. Die Hauptrolle des Jared Eamons (angelehnt an Garrard Conley) übernahm Lucas Hedges. In den Rollen der Eltern sind zudem Nicole Kidman und Russell Crowe zu sehen. Joel Edgertons Film orientiert sich im wesentlichen an der Buchvorlage, unter anderem was die Struktur betrifft. So springen sowohl Boy Erased: A Memoir, wie auch die Verfilmung immer wieder zeitlich vor und zurück. Das erfordert beim Sehen (und noch mehr beim Lesen) Aufmerksamkeit. Auch im Film stehen das Heranwachsen des Protagonisten innerhalb einer konservativen Familienstruktur, einem allgemein konservativen Umfeld, sowie die Tage bei »Love in Action« und der schwere Weg einerseits wieder ein Gefühl für sich selbst zu entwickeln und andererseits sich mit den Eltern auszusöhnen, im Vordergrund.

Eine Texttafel am Ende des Films setzt das Erzählte zudem in einen größeren Kontext. So ist zu lesen, dass in den USA schätzungsweise 700.000 Menschen diese oder ähnliche Programme der versuchten Umerziehung durchlaufen haben. Lediglich 14 Staaten verbieten die wahrscheinlich schlimmste Form von Conversion Therapy, nämlich die von noch minderjährigen queeren Menschen, die teils aus Zwang von Seiten ihrer Erziehungsberechtigter in diese Programme gesteckt werden. Nicht zu unterschätzen ist dabei auch der psychische Druck, der aufgebaut wird. Im Fall von Conley wurde beispielsweise von Seiten des Vaters ein Ultimatum ausgesprochen: »You’ll never set foot in this house again if you act on your feelings. You’ll never finish your education«, wie aus seinem Interview mit dem Guardian hervorgeht.

Bereits 2005 hat in den Vereinigten Staaten ein Fall eines Jugendlichen, der in das Programm gezwungen worden ist, für großes Aufsehen gesorgt. Der Teenager Zach Stark berichtete damals auf seinem MySpace Blog davon, wie die Tage nach seinem Outing für ihn zur Hölle wurden. Seine Eltern erklärten ihm, dass mit ihm psychologisch etwas nicht stimme und er bald in ein Camp geschickt werde, um ihn von seiner Homosexualität zu »heilen«. »Gay Teenager Stirs a Storm« titelte damals die New York Times und zitierte aus dem Weblog Zach Starks Sorgen: »If I do come out straight, I’ll be so mentally unstable and depressed it won’t matter«, und gar seine drastischen Suizid-/ bzw. Homizidgedanken: »I can’t help it — no I’m not going to commit suicide — all I can think about is killing my mother and myself. It’s so horrible«.

Der deutsche Kinotrailer von »Der verlorene Sohn« auf YouTube.

Die Filmemacher*innen von Boy Erased wissen um all diese Hintergründe und Geschichten über Conversion Therapy in den USA und beziehen diese auch zum Teil in die Verfilmung mit ein. (mild spoilers ahead) Obwohl Boy Erased auf einer doch recht nüchternen Berichterstattung basiert, so kommt er doch noch zu großen, dramatischen Momenten. Bereits der Trailer zeigt eine Szene, in der ein junger Mann auf allen Vieren am Boden hockt, während Joel Edgerton in seiner Rolle als fieser »Ex-Gay« Propagandist die »Seminar«-teilnehmer*innen dazu auffordert eine Bibel in die Hand zu nehmen und zuzuschlagen, um dem jungen Mann Dämonen auszutreiben. Nachdem ich den Trailer angeschaut hatte, blätterte ich etwas verwirrt durch meine Buchausgabe, um herauszufinden welchen dramatischen Höhepunkt ich hier womöglich überlesen hätte.

Im Zusammenhang des Films wurde dann klarer, dass hier ein Nebensatz aus Boy Erased: A Memoir als Vorbild genommen wurde, in der die Rolle von John Smid in der »Ex-Gay«-Bewegung thematisiert wird. Um ihn habe es bereits zur Zeit, die Conley bei »Love in Action« verbracht habe, reichlich Skandale gegeben; darunter der, dass in Smids Programm eine Fake-»Beerdigung« abgehalten wurde, als sich ein schwuler Mann nicht genügend gefügt habe. Angehörige und Programmteilnehmer*innen betrauerten demnach einen leeren Sarg, in dem der junge Schwule dank AIDS unausweichlich landen würde, sofern er weiter die »Behandlung« verweigerte.

Popstar Troye Sivan und Victor McCay als Teilnehmer*innen des »Love in Action« Programms. ©Focus Features

Mütterliche Fürsorge als letzte Rettung

Die Frage, die sich beim Vergleich zwischen Buch und Film aufdrängt ist die, ob es dramatischere Szenen zu Conversion Therapy braucht, die zwar wahrhaftig passiert sind (beziehungsweise noch immer passieren), aber eben nicht zu der Zeit, als Conley dort war. Sie scheinen als Ausgleich dafür zu dienen, dass der Film nur begrenzt den inneren Schmerz seines Protagonisten zu vermitteln vermag. 

Zudem hat mich auch beschäftigt, für wen genau der Film produziert worden ist. Einen Hinweis darauf, wer als potentielle Adressat*innen infrage kommt, hat Conley selbst gegeben. Zu seinem Buch sagte er in einem Interview mit queer.de, er habe es bewusst nicht in sarkastischem Ton eines homosexuellen Mannes schreiben wollen, der über Conversion Therapy ablästert. Er sieht eine Diskrepanz zwischen einer »akademischen linken Blase« und Menschen des evangelikalen Amerikas. Um das Eingangs eingebrachte Zitat aus Boy Erased: A Memoir noch einmal aufzugreifen, so repräsentiert dieser Film nicht nur schwule Heranwachsende, er rückt auch dieses evangelikale Amerika in den Mittelpunkt, dass vielleicht für das »liberale Hollywood« nicht so besonders interessant ist und trotzdem seine damalige Lebensrealität (und das vieler Amerikaner*innen) darstellt. Um auch Mittelamerika zu erreichen, scheint es einerseits konsequent, dass hier ein weißer heterosexueller cis-gender Mann inszeniert und sich der Film nicht so sehr auf die Absurditäten von Conversion Therapy konzentriert (wie das bei The Miseducation of Cameron Post oder But I’m a Cheerleader der Fall war). Man nimmt die Sorge der Erziehungsberechtigten und ihre Bestrebungen den Kindern etwas Gutes tun zu wollen sehr ernst. Andererseits geht damit auch ein gewisses Frustrationspotential für ein queeres Publikum einher. So könnte man beinahe resümieren, dass der Mutter, die eine Wandlung als Unterstützerin der Idee von Conversion Therapy, hin zur Retterin ihres Sohnes (denn eine Mutter weiß, was für ihren Sohn gut und was schlecht ist – so wird argumentiert), die stärkere Storyline verpasst bekommen hat. Der queere Protagonist ist da mehr ein Spielball anderer Figuren.

In meinem Gesamteindruck ist zwar ein solider Film entstanden, mit wirklich tollen Performances, einem schönem Soundtrack (unter anderem der Titelsong »Revelation« von Troye Sivan & Jónsi). Alles in allem war das Buch für mein Empfinden trotzdem in dem Sinne stärker, da es dem »Protagonisten« die reichere, komplexere Storyline gibt.

»Der verlorene Sohn« läuft derzeit im Kino; »Boy Erased: A Memoir« ist im Riverhead Verlag und in der deutschen Übersetzung bei Secession erschienen. 

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